Seit vielen Jahren beklagen FußballanhängerInnen in den unterschiedlichsten tagessymbolpolitischen Konstellationen eine „Verbürgerlichung“ des Fußballs und damit die Enteignung eines ihrer Ansicht nach genuinen ArbeiterInnenklassen-Kulturausdrucks. Dies vollzieht sich auch über den Bedeutungswandel des Fußballs vom Pathos einer schichtspezifischen Sportart (vergleichbar dem traditionell bürgerlichem Tennis oder Golf) zum gesamtgesellschaftlichen Ereignis. Was sich am deutlichsten in der Fußballkultur selbst zeigt: Stadien werden zur umfassenden Ereignisgastronomiestätten umgestaltet; Stehplätze werden rückgebaut – zumindest im Verständnis vieler Fans bilden Stehplätze ein zentrales Element einer nicht-bildungsbürgerlichen Rezeptionsweise: Masse, Bewegung, Begeisterung, lautstarke Teilnahme am Geschehen anstelle jener kontemplativen, neutral-beobachtenden, objektiv und interesselos genießenden und gelungene Einzelleistung bestaunenden Teilhabe am Kunstwerk und sportlichen Ereignis durch explizite Nichtteilhabe, wie sie die Autonomieästhetik als ästhetische Ideologie des Bürgertums formuliert hatte.

Die Trennung von Rezeptionsindividuum und Kunstwerk war die Grundbedingung der bürgerlichen Idee vom Künstler als exemplarisches Vorzeige-Individuum („Genie“) und zieht sich als ästhetisches Problem bis in die Moderne und Postmoderne hinein (Einbeziehung des Betrachters, Überwindung des Kunstraums, politische Wirkabsicht, Tod-des-Autor-Strategien etc.)

Mit dem Verschwinden billiger Stehplätze geht eine rapide Verteuerung der Eintrittspreise einher. Die wiederum die fortschreitende Inszenierung der Stadien und ihres Umfeldes als umfassend geschützte und einlasskontrollierte Räume bedingt: Längst sind jene Überwachungstechnologien dorthin vorgedrungen, die den öffentlichen Raum der bürgerlichen Gesellschaft zur sozialpolitischen Segregationszone umdefiniert haben. Auch das ist ein Verbürgerlichungssymptom: Denn konstitutiv für die „offene Gesellschaft“ ist die ökonomische Unterscheidung von Menschen in Subjekte und „Abjekte“ (der/die/das Unerwünschte), wie sie sich in Zero-Tolerance-Setzungen oder beispielsweise der deutschen Asyl- und SchlepperInnen-Politik zeigt.

All das korrespondiert mit dem Bedeutungswandel des Fußballs als Wille und Auftrag der bürgerlichen Kultur. Ebenso jene Art und Weise, wie die neue deutsche Repräsentationspolitik die anstehende Fußballweltmeisterschaft zum nationalpolitischen Geschehen umgewertet hat. Jene „Vision“ – wie es auf neoliberal heißt –, von Deutschland als InvestorInnen-Wellness-Oase und „Weltfreund“ spricht eine deutliche Sprache. Und der dazugehörige Claim: „Die Welt zu Gast bei Freunden“ wiederum nicht nur für sich sondern auch für die altbekannte deutsche Idee von Welt, wenn auch das nationalsozialistische Arzt-Patientenverhältnis in ein diplomatische Besuchshandlung im Merkel-Bush-Sinne umgedeutet wurde. 

Die Weltfreund-Strategie wurde in Deutschland übrigens bereits anlässlich der Olympiade 1936 hinreichend erprobt, und 1978 von der argentinischen Diktatur aufgegriffen.

Schon lange nicht mehr stellen also internationale sportliche Großereignisse internationale Ereignisse da, sondern vielmehr nationalstaatliche Bühnen. Entsprechend soll auch die WM 2006 in allem Bemühen um neu-deutsche Lockerheit der verquaste Ausdruck deutscher Nationalkultur sein.

Allerdings trägt Fußball seit jeher die Dialektik aus von Subjektivitätskultur (ArbeiterInnenklasse) und der Objektivitätsbehauptung der bürgerlichen, die letztere aus ihrer Verfügungsgewalt über sowohl die Produktionsmittel wie auch die Definitionsgewalt von „Objektivität“, also Wissenschaft, Wissensvermittlungssysteme, Geschichtsschreibung usw. bezieht. Eigentlich stehen sich im Fußball nicht zwei Mannschaften gegenüber, sondern das radikale und kompromisslose Subjektivitätsbeharren der gegeneinander positionierten, aber in ihrer Subjektivität identischen Wahrnehmungskollektive (Vereine und die ihnen sich zuordnenden Fanblöcke und -kurven) und dem/der SchiedsrichterIn als AgentInnen der bürgerlichen Gesellschaft, der sich mit ihren begrifflichen Attributen ausgerüstet hat: Wahrnehmungsneutralität, Unabhängigkeit/Autonomie, Objektivität, Autorität, Parteilosigkeit, die Mittenposition, Subjektstatuts als exemplarisches Individuum usw.

Das rational-kontrollierte Schiedsrichtersubjekt repräsentiert bürgerliche Moralität, und wird dabei – und darin könnte mit der hier entfalteten Logik ein Hauptreiz für den Besuch von Fußballspielen liegen – gnadenlos beobachtet kontrolliert und natürlich geschmäht sowie entsprechend der eigenen subjektiven Wahrnehmungsweise vorbehaltlos gehasst.

Seine Funktion ist neben der Aufrechterhaltung der Regelgeleitetheit des Spiels – also der Verteidigung seines Sinns, seiner Zweckgerichtetheit und inneren Logik – auch diejenige, das bürgerliche Individuum zu repräsentieren und sich hierbei publikumswirksam in dessen Selbstwidersprüchen zu verstricken.

Stellvertretend soll sich an ihm für die Demütigen durch die bürgerlichen Autoritätssubjekte in der realen Welt abreagiert werden können.

Dennoch: Trotz aller Schmährufe und Pfiffe – seine Objektivität siegt zu guter letzt, beendet das Spiel, und alles kommt wieder zum Alten. Die gesamte Vorführung war lediglich eine Kabarettdarbietung bzw. Karneval (sh. unten), an deren Ende die Restituierung der üblichen Verhältnisse und die nächste Arbeitswoche stehen…

Der Fall des Skandalschiedsrichter Robert Hoyzer hat die sonst auf Unsichtbarkeit bedachte Schiedsrichtergestalt, von der gesagt werden kann: Sie ist immer dann gut, wenn sie nicht bemerkt wurde, öffentlich sichtbar gemacht, indem er erstens ostentativ gegen seine Rolle als Schiedsrichter verstieß – und zweitens diese Übertretung in einem beinahe schon historischen Sinne von Pop inszenierte, als Übertretung nämlich sowie als deren bewusste Inszenierung.

Im begleitenden und vom Skandalgeschehen nicht trennbaren Buch der beiden Berliner Sportjournalisten Axel Kruse und Jan Möller (Der Fall Hoyzer. Zocker, Schiris und Millionen) wird suggeriert, Hoyzer habe die Objektivitätsübereinkunft seines Schiedsrichtersubjekts aus subjektivem Begehren übertreten; im Text mehrfach ins Feld geführte Stichworte hierfür wären: Ruhm, Reichtum, Ansehen, Freunde/Beliebtheit des ehemaligen Außenseiters. Damit hätte Hoyzer der bürgerlichen Kultur also das individuelle Glücksversprechensmodell der bürgerlichen Kultur entgegengehalten, auch dies ist eine historische Strategie des Pop.

Im emphatischen Sinne von Pop wäre er demzufolge ein Held, weil sein Akt des Werteverrats zugleich als einer der Auflehnung gegen „die Fabrik“, in der diese Werte produziert werden, lesbar würde. Eine Sabotage. Zugleich konnte ihn aber eben jenes System, gegen dessen Reglements und Selbstbeschreibungen er verstoßen hatte, durch eben jene Popform (seine Medialität) hindurch für seine Zwecke verwerten und operationalisieren. Als Star wurde er wieder dasjenige, dem er als Schiedsrichter zu entkommen trachtete: eine Opfergestalt. Durch die Zusammenziehung des aufgegangenen Korruptionshorizonts im deutschen Fußball in seiner mediatisierten Person verhinderte er gerade, dass dahinter liegende Strukturen, Verdachtsmomente und Widersprüche allzu sehr ins öffentliche Blickfeld geraten wären. Sein Opfergang als Individuum diente somit der nur symbolischen Reinigung und damit der Erhaltung einer Gemeinschaft und ihrer patriarchalen Organe (DFB, FiFa).

Nicht nur blieb Hoyzer in dieser Vorscheinfunktion Schiedsrichter mit allerdings gewandeltem Vorzeichen. Die Ereignisse um seine Person und ihre mediale Inszenierung wirkten sich wiederum systemstabilisierend aus, wie es oben ebenfalls für die Opferung des Schiedsrichters als objektives Subjekt auf dem Fußballplatz beschrieben worden ist.

 „Café König Fußball“ hat sich als Darstellungskonzept die inhaltliche und formale Nähe von Fußball und Karneval (in der Lesart von Michail Bachtin) als ehemalige Gegenkulturformen der Machtlosen zueigen gemacht: Beide sind im oben skizzierten Sinne systemstabilisierend, da längst fest im bürgerlichen Repräsentationsraum verankert, und damit so unschädlich wie exemplarisch das alljährliche, hochgradig durch ritualisierte Politiker-Derblecken auf dem Münchner Nockerlberg.

Eine Videoinstallation im Rahmen dieser Ausstellung inszeniert das Sprechen über die theoretischen Implikationen des Falles Hoyzer als Büttenrede – und thematisiert damit zugleich die eigene Thematisierung durch ihre Form; das Vordringen von Videoinstallationen in den Kunstraum ist sicherlich als restaurative Wiederkehr der bürgerlichen Repräsentationskunst („Malerei“) mit modernem Vorzeichen zu verstehen.

Ergänzt wird diese Installation durch eine Aufbereitung von Informationsfetzen und deren im Sinne von Bachtins emphatischen Karnevalsbegriff karnevalistischen (also transgressiven, zum investigativen und möglicherweise sogar medien- oder anderweitig kritisch deutbaren Sinn dekonstruktiven) Kommentaren in den nachgestellten Räumen des „Café King“, jenem Ort, an dem die bürgerlich-objektive und die authentisch-puritanische Fußballideologie so nachhaltig aneinander zum Zugunglück wurde, dass es nur Pop sein konnte.

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