Ein Höllengemälde; mittelalterlich; dantesk im Schrecken; gmadenlos; modern. Unisono mit der von Arno Schmitt in dessen "Wundertüte" vertretenen Auffassung fühlt sich der Autor der Erkenntnis verpflichtet, daß die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts gerade für deutsche Autoren für die Darstellung der Hölle völlig neue Ansätze erfordern. Demgemäß weist Marrak das alte Unterweltmodell in Bausch und Bogen von sich.
Ady Henry Kiss in der SWF-Rundfunk-Sendung "BUCHZEIT"

Michael Marrak ist im besten Sinne ein "maniac" - in Zeiten der indifferenten Beliebigkeit ein mysteriöser, dunkler Kristall mit einer verwirrenden Anordnung harter Kanten und irrisierender Flächen. "Die Stadt der Klage" gerät daher zu einem Tour de force-Ritt durch die Weiten einer Höllenwelt tief in die Vergangenheit und in das Zentrum menschlicher Sünden und Begierden. Hyppolit Krispin, Ägyptologe rumänischer Abstammung, alias Kematef, die Verkörperung einer altägyptischen Gottheit, verfällt zu Beginn der Geschichte den magischen Liebeskünsten einer schönen Unbekannten, um sich kurze Zeit später in eine merkwürdige Welt verbracht zu finden, die in den Höhen zwischen den Wolken angesiedelt, vielmehr eine Höllenwelt darstellt, in der die Sünder, ihren weltlichen Verfehlungen entsprechend, bittere Qualen erleiden müssen. Wie in Dantes Inferno bereist der Protagonist diese "Unterwelt", begegnet dabei aber auch Schrecken unserer modernen Zeit. In vielen Schilderungen treffen sich tiefste mythische Weisheiten mit Elementen platter Comic(un)kultur - ein absurdes Szenario, das - unbewußt? - viel über die Befindlichkeit unserer heutigen Zeit zwischen Werteverlust und einfachen Lösungen aussagt. Eigentlich ist dieses Buch ein zutiefst moralischer Roman; man bekommt das zum Glück nur nicht aufgedrängt. So treiben in einem brennendem See aus Alkohol die Leiber der "falschen Engel", wovon uns einige nur zu bekannt sind - allen voran Michael Landon, "ein Engel auf Erden". Köstlich! Daß neben ihm Monty Pythons Graham Chapman schwimmt, kann ich dem Autor allerdings nur schwer verzeihen. "Die Stadt der Klage" ist auf eine spezielle Weise ein sehr persönliches Buch, zudem aber auch ein sehr gutes. Man begleitet den "Helden" gespannt durch seine Irrungen, fragt sich, in welches Quartier der scheinbar grenzenlosen Stadt es ihn als nächstes verschlägt. Bei aller Schrecklichkeit, die diese Welt erfüllt, gibt es immer auch Momente der absurden Komik. Es ist diese schwer verdauliche Mischung, die eine große Qualität von Marraks Texten ausmacht. Insgesamt ist dieser Roman ein visionärer Entwurf, gestützt auf klassische Motive. Das Ergebnis ist ein ausgewuchertes Konstrukt ganz eigener Art. "Die Stadt der Klage" ist ein Buch, das manche Leute zum Lesen bringen könnte, die es sonst nicht tun. Nur Schade, daß sie schwerlich erfahren, was ihnen entgeht; diejenigen, denen es bislang bekannt geworden ist, sind vielleicht das falsche Publikum. Auch irgendwie bezeichnend: Ein Engel in der Hölle - oder doch ein frustrierter Dämon zwischen den Lotusessern?
Jürgen Thomann KOPFGEBURTEN