Frank Apunkt Schneider

DIE LETZTE SCHLACHT:

 

Irgendwie ist seither alles so anders.

Man kann natürlich nicht darauf zeigen, es hochheben oder fotografieren. Es ist so wie … ich weiß nicht … so, als würde alles ausbleichen. Die Häuser, die Menschen, die ganze Gegend. Das Essen. Auch der Hund wird immer blasser. Er verliert seine Farbe und den Geruch. Oder die Wolken. Wenn man bedenkt, was es früher für Wolken gab. Wie dicke fette Kühe. Aber das da, das sind doch keine Wolken mehr. Und die Flugzeuge. Früher gab es doch ständig Flugzeuge. Hat man immer welche gesehen. Die Leute von den Küsten nannten uns ja die „Fly-overs“, weil sie immer über uns weggeflogen sind.

Auch die Vögel hängen nur noch in den Bäumen, und manchmal fällt einer runter und bleibt dann einfach liegen.

Wer hier oben wohnt, weiß, wovon ich rede.

Die Leute erzählen sich von Löchern in den Wäldern. Keine Gruben oder so was. Oder Höhlen. Mehr wie Risse. Nicht im Boden oder in den Felsen. Sondern wie Risse in der Welt. Man kann sie nicht sehen, aber man hat das Gefühl, dass sich alles irgendwie auftrennt. Der alte Henderson sagt, es ist so löchrig geworden da draußen, man meint, es wär’ der Holzwurm drin.

Natürlich sind die Leute ziemlich durchgedreht, nach dem, was passiert ist. Sie sagen auch nicht mehr viel. Und was sollten sie auch sagen.

Und wenn sie überhaupt mal das Maul aufkriegen, dann reden sie mit sich selbst. Von Strafe. Und dass es so hat kommen müssen.

Und die Luft. Wir waren hier ja mal berühmt für unsere Luft. Manchmal kamen die Leute aus New York oder Albany hier rauf. Einfach wegen der Luft.

Die Luft ist jetzt anders. So abgestanden und staubig. Als hätte sich die ganze Gegend in einen Dachbodenverhau verwandelt. Und man ist immer gleich außer Atem und japst bei jedem Scheiß. Man kann nicht viel mehr machen, als sich auf die Veranda setzen und zusehen. Auch wenn man eigentlich gar nicht weiß, bei was.

Noch vor ein paar Monaten war das alles ganz anders. Nicht in Ordnung, das natürlich nicht. Eher im Gegenteil. Man hatte ja damals das Gefühl, überhaupt nichts ist in Ordnung. Und dass man etwas ändern muss. Aber man muss bei sich anfangen. Es geht um dich und du hast immer die Möglichkeit, es anders zu machen. Haben wir uns jedenfalls gedacht. Wir hatten ja so eine Idee von uns, dass wir was machen können. Wenigstens was uns betrifft. Und das den anderen zeigen. Und vielleicht kapieren sie ja was.

Klar, die Leute an den Küsten haben gelacht. Oder drehten paranoide Film über uns. Und natürlich hat es uns auch angekotzt, hier zu sein. Unsere Platten mussten wir uns mit der Post kommen lassen. Und für Konzerte mussten wir bis runter nach Des Moines oder Fort Dodge. Aber wir hatten ja unsere eigene Band. Jefferson Airguitar. Und dadurch gab’s dann auch plötzlich Konzerte und man hat Leute kennengelernt. Sogar ein Fanzine hat es gegeben. Unten in Lake View. Und das war wichtig, weil man mitbekommen hat, wo noch wer was macht. Und weil man zeigt, man ist da. Also auch den Leuten in Boston oder

Los Angeles. Das hat mir immer gut gefallen an dieser Szene. Also dass das möglich war.

Warum wir diesen beknackten Namen beibehalten haben, weiß ich gar nicht mehr so genau. Am Anfang wollten wir halt Krach machen und ein bisschen bescheuert sein. Mehr muss man ja auch nicht wollen mit 15 oder 16. Und als wir uns gründeten, das heißt als wir uns in Rachels Keller betrunken haben, fühlte er sich genau richtig an.

Manche meinten, er hätte nicht mehr zu der Richtung gepasst, in die wir uns entwickelt haben. Vor allem nicht zu meinen Texten, wo es ja um bestimmte Dinge geht. Unsere Gefühle und so. Ich finde das nicht. Ich fand immer, er war so etwas wie ein Vertrag zwischen uns, den man nicht einfach auflösen kann.

Ich glaube ja eh, dass Bandnamen was sehr Komplexes sind. Komplexer als man denkt. Bandnamen sind fast so was wie eine eigene literarische Gattung. Es gibt so was wie eine „Bandnamenliteratur“, kann man sagen. Ich habe mir immer vorgestellt, dass ich später auf dem College meine Abschlussarbeit drüber schreiben könnte. Aber ich glaube fast, da wird jetzt nichts mehr draus.

Unsere Single kam jedenfalls gut an, nicht nur hier in Iowa, sondern wir haben Bestellungen von überall her bekommen. Ein paar gingen sogar nach Europa. Italien. Deutschland. Polen. Wahnsinn, oder!?

Und im Sommer hätten wir sogar eine kleine Westküsten-Tournee spielen sollen. Zusammen mit Headset und Waterworld. Zwar nicht San Francisco oder L.A., aber immerhin Portland und Sacramento, Bakersfield, Flagstaff und so was.

Wäre sicher toll geworden.

Hier ist jetzt alles so wie manchmal im Winter, wenn wir hier oben völlig abgeschnitten sind. Nur dass kein Schnee liegt, sondern etwas Farbloses und Zähes, das man nicht sehen kann. Selbst die Farmer sind mittlerweile in den Ort runtergekommen. Sie sitzen in den Motels draußen am Freeway, weil es da oben so unheimlich ist. Nicht als würde es spuken, als würde da was umgehen, eher das Gegenteil. Eine eigenartige Leblosigkeit. Der alte Henderson meint, in den Wäldern oben fühle man sich, als würde man eine Leiche ficken.

Dieses Ding, das konnte man wenigstens noch bekämpfen. Man konnte ihm entgegentreten, auch wenn einige, die mir mal sehr viel bedeutet haben, dabei draufgegangen sind. Aber wir haben es vernichtet. Ich habe es vernichtet.

Es fing eigentlich alles damit an, dass sie Angels Leiche fanden. Irgendwann im Juni. Unten am Fluss. Völlig zerfleddert. Klar, die Leute haben sich nichts dabei gedacht. War ja nur ein Hund. Damit fing es wieder an.

Und erst mal dachte niemand an die Geschichte mit Dad. Damals vor 11 Jahren. Irgendwie habe ich es wohl geschafft, das alles zu vergessen. Erst nachdem uns langsam klar wurde, dass es wieder da ist, dass es gar nicht tot ist, dass es wieder aufgewacht ist, kamen auch die Bilder jener Nacht zurück, als Dad verschwand.

Verwackelt und zusammenhanglos, aber sie ergaben einen gewissen Sinn. Wahrscheinlich hatte ich Durst gekriegt oder was, jedenfalls bin ich aufgestanden und in die Küche runter. Und im Garten war was. Keine Ahnung, was. Kann man nicht beschreiben. So ein Ding halt. Und ich muss wohl rausgegangen sein, um es mir anzusehen. Dann sehe ich Dad.

Er reißt mich weg davon. Er reißt mich hoch. Er fällt und ich rolle den Garten hinunter, weg von dem Ding, weg von Dad. Sie scheinen zu kämpfen, aber es ist ganz still. Als hätte jemand den Ton abgestellt. Und es kommt mir vor, als schreie ich, aber es ist nichts zu hören. Und da ist dieser Riss. In der klaren Nachluft ist plötzlich dieser Riss. Keine Ahnung, eben ein Riss. Wie aufgeschlitzt.

An den Rändern züngeln Flammen, kleine, hektische, flache Flammen, ungefähr so wie dünnes Papier verbrennt. Und plötzlich weicht das Ding zurück, und ich glaube fast, sie sind beide da rein gestürzt. In den Riss. Denn jetzt kann ich nichts mehr sehen. Nur Mom, die irgendwann dasteht, im unfassbar leeren Garten. Sie redet auf mich ein, aber ich verstehe nichts. Dann trägt sie meinen vor Angst schlaffen Körper in eine Decke gewickelt ins Haus. Ich glaube, sie hat keine Ahnung, was los war.

Manchmal, wenn ich mit den anderen draußen am alten Steinbruch lag und dieses angeblich mexikanische Gras rumging, das Tallulah über ich weiß nicht welche Kanäle bekam und hier am Ort verteilte, sah ich diese Bilder wie hinter dickem, trübem Glas. Aber es war okay, es waren nur Bilder. Ich nehme an, dass jeder irgendwelche Bilder sieht, wenn er die Augen geschlossen hat. Oder sie. Und ich war damals ja noch ein Kind. Sieben Jahre alt. Und da ist die Erinnerung ja immer so komisch verschwommen.

All das war über die Jahre von mir abgefallen. War einer Entspannung gewichen, die sich allmählich anzufühlen begann wie ein kaputter Football. Und das war gut.

Mein Vater, so denke ich heute, hat es damals nicht vernichten können. Nur zurückdrängen. Den Riss noch einmal verschließen. Aber er war nicht ganz zu. Jemand hat ihn wieder geöffnet. Erst wir haben es getötet. Und manchmal denke ich, wir hätten das nicht tun dürfen.

Spätestens nachdem wir Erics Jacke gefunden haben, kurz nach der Sache mit Angel, hinterm Club bei den Mülltonnen, wo wir immer geraucht haben, wusste ich, dass etwas nicht stimmt. Und dass es mit Dad zu tun hat und mit dem, was mit ihm passiert ist. Auch wenn offiziell gar nichts passiert ist, sondern er ist einfach verschwunden.

Am dritten Tag, den ich wie die davor in einem hastigen, grollenden Fieber durchschwamm, stand der Sheriff in der Küche, zuckte mit den Achseln und er hat Mom, die apathisch eine Tasse vor ihn hinstellte, erklärt, dass sie die Suche abbrechen müssen. Sie hätten die Gegend jetzt mehrfach durchkämmt, „ohne Ergebnis“ – sagt er, und er schaut auf seine haarigen Hände. Und das war die Sache mit Dad.

Ich habe lange nicht gewusst, ob es an den Filmen liegt, die wir uns angesehen haben, wo es ja auch meistens um Städte wie unsere geht, dass ich diese Bilder sehe. Oder ob es tatsächlich eine Erinnerung ist. Das heißt, ich wusste es nicht genau, bis zu jenem Samstagabend im Oktober, wo ich mit diesem Ding gekämpft habe. Wie Dad. Nur dass ich es diesmal besiegt habe. Ich habe es endgültig aus der Welt geschafft.

Wir hatten uns auf diesen Abend gefreut und wochenlang von nichts anderem geredet. Es hätte das Ereignis werden sollen. Quiz Kid Donnie Smith sollten spielen. Und man kann vielleicht von Glück sagen, dass sich der Sänger kurz vorher den Arm gebrochen hat. Na jedenfalls mussten wir dann allein auftreten. Und dann kam, was eben kommen musste. Eine Art Showdown.

Wenn ich daran denke, wie wir damals den Club aufgebaut haben. In der alten Scheune von Erics Vater. Und was da alles passiert ist. In all den Jahren. Ein echter selbstverwalteter Laden. Hätte damals niemand gedacht, dass wir so was hinkriegen. Einmal haben sogar Pansy Division bei uns gespielt. Und hinterher haben sie noch Party mit uns gemacht.

Jetzt ist der Club nur noch ein Haufen Schutt, den sich keiner wegzuräumen traut. Die Leute machen einen großen Bogen darum.

Wir waren in dieser Zeit, als wir den Club hatten, na ja, vielleicht nicht gerade glücklich, aber doch nahe dran an diesem Gefühl, das wir vorher nur aus Liedern kannten.

Und die Kids, die dann irgendwann dort aufgetaucht sind, haben uns angesehen, als wären wir wirklich wichtig. Was wir ja auch waren. Für sie zumindest. Und sie für uns. Einfach, weil man gesehen hat, dass etwas weitergeht.

Es hatte wirklich was von damals, Ende der 60er. Als die Leute plötzlich anders miteinander umgehen wollten. Nicht dass wir Hippies waren, das ganz bestimmt nicht. Aber es gab so eine andere Art zwischen uns. Eine ganz andere Freundlichkeit als die Freundlichkeit unserer Eltern, also wenn die überhaupt mal freundlich waren. Egal zu wem.

Aber dann ist die Sache mit Kathy und Justin passiert. Kurz bevor sie Angel gefunden haben. Wir wollten Justin nicht mehr sehen. Einfach, weil wir gar nicht wussten, wie wir damit umgehen sollen. Man kann doch nicht einfach mit so jemand rumhängen, als wäre nichts geschehen. Als ginge es immer noch um Bands und Platten und darum, dass man keine Tiere essen soll.

Und kurz danach ging ja auch alles los. Fast so, als wäre in dieser Nacht etwas erwacht. Vielleicht, weil Justin das gemacht hat. Er hätte das nicht tun dürfen. Er hatte kein Recht dazu. Kann sein, dass es da einen Zusammenhang gibt. Aber das ist natürlich Spekulation.

Jedenfalls war dann plötzlich wieder dieses Ding da. Kein Monster oder so. Nichts, was man aus Filmen kennt. Aber etwas unfassbar Böses. Obwohl ich ja an so was nicht glaube: das Böse. Trotzdem habe ich es vernichtet, an diesem Samstagabend im Oktober, als eigentlich die Quiz Kid Donnie Smith hätten spielen sollen. Es ist jetzt weg und es wird nicht wieder kommen. Das wissen wir. Aber was jetzt ist, das wissen wir nicht. Und warum. Es ist, als wäre die Welt plötzlich kaputt. Als hätte sie sich zum Sterben hingelegt.

Wir sehen uns kaum noch. Wir wissen auch nicht, was wir einander sagen sollen. Was ich schade finde, schließlich haben wir mal geglaubt, gemeinsam kriegen wir es schon hin. Was immer es auch ist.

Und wie wir da auf der Straße standen, nach dieser Nacht und auf die Reste unseres Clubs schauten, da dachte ich noch, dass man das schaffen kann. Dass man das packt. Ich habe Kathy meine Jacke umgelegt. Sie war ganz bleich … nur das kreiselnde Licht der Polizeiwagen gleitet über ihr Gesicht. Die Sonne wird bald aufgehen, die Berge haben schon einen rötlichen Saum. Wir sind erleichtert. Weil es vorbei ist. Und wir überlegen, was wir den Cops sagen, wenn sie uns gleich holen und ihre Fragen stellen. Aber noch sprechen sie in ihre Funkgeräte und rollen ihre Absperrbänder aus…

Eine merkwürdige, wie schlurfende Sprachlosigkeit ist seither in die Leute und die Dinge gekrochen. Es scheint ein seltsamer Verfall eingezogen zu sein. Ein sprunghaftes Altern. Manchmal kauft man Toastbrot, und schon am nächsten Tag ist es völlig vertrocknet, und es schmeckt wie Styropor.

Und vor ein paar Tagen ist die alte Miss Harcott auf der Straße zusammengesackt. Als man sie aufhob, war ihr Körper leer und leicht, wie ein abgestreifter Kokon.

In die Kirche geht auch niemand mehr. Verständlich, nach dem, was dort mit Father Jones passiert ist. Früher hätte mich das gefreut, dass die Leute ihren bescheuerten Glauben verlieren. Aber jetzt scheint das alles nichts mehr zu bedeuten.

Fremde kommen fast gar nicht mehr. Und niemand hat seither den Ort verlassen. Doch wir wissen, dass auch die übrige Welt befallen ist. Es muss so sein. Schon wegen der Flugzeuge.

Selbst das Grün, das jetzt im Frühjahr wieder aufbricht, wirkt wie eine alte überbelichtete Fotographie. Und die Sterne am Horizont scheinen zu versiegen. Obwohl das eine optische Täuschung sein muss. Ihre Bilder sind ja viele Millionen Jahre alt, wenn sie hier unten ankommen.

Und dann das Gras. Probier mal! Schmeckt wie Asche. Und man wird auch nicht mehr high davon. Man wird nur ganz müde und kalt.

 

(Dieser Text ist in der Anthologie “Saturday Night. Geschichten“ im Februar 2009 im Piper Verlag erschienen)